Kein Reitunfall ohne Gutachten
19.03.2024
Mit Urteil vom 17.10.2023 hat das Oberlandesgericht Hamm ein Urteil des Landgerichtes Dortmund vom 23.02.2022 wegen Verstoßes gegen Artikel 103 GG aufgehoben und an das Landgericht zur weiteren Beweisaufnahme zurückverwiesen. Die 1972 geborene Angestellte hatte mit dem Pferd der Beklagten beim Springen über ein Hindernis einen schweren Unfall erlitten. Das Pferd hatte zunächst ein 50 cm bis 55 cm hohes Hindernis problemlos übersprungen. Meine Mandantin hatte behauptet, sie habe das Pferd auf der linken Hand geritten. Nach dem Sturz habe das Tier plötzlich die Richtung geändert, so dass sie mit dem ausgestreckten Bein auf den Sandboden aufgekommen sei. Hierbei zog sie sich eine mehrfragmentäre Fibula- und Tibiafraktur rechts mit Gelenksbeteiligung und Sprengung des Sternoclaviculargelenkes rechts mit einer Brustkorb- und Brustwirbelsäulenstauchung rechts zu. Das Landgericht hatte die Klage abgewiesen, weil die Klägerin durch einen Reitfehler ein so erhebliches Verschulden am Entstehen des Unfalls trage, dass die Gefährdungshaftung der Tierhalterin nach § 833 BGB dahinter zurückstehen müsse. Die Klägerin habe dem Tier eine falsche Hilfe nach links gegeben. Diese Hilfegebung hätte nicht den Verhältnissen auf dem Platz entsprochen, so dass das Tier nach rechts gedreht habe. Ein Anspruch aus § 833 BGB scheide mangels ersichtlichem Verschuldens der Halterin aus. Die von mir eingelegte Berufung hat das Oberlandesgericht Hamm für begründet erachtet: Das Verfahren am Landgericht leide an einem wesentlichen Mangel. Es sei eine weitere umfangreiche und aufwendige Beweisaufnahme notwendig. Der Rechtsstreit sei deshalb gemäß § 538 Absatz 2 Satz 1 ZPO unter Aufhebung des Urteils an das Landgericht zurückzuverweisen. Ein Anspruch aus § 833 BGB sei dem Grunde nach zu bejahen. Eine typische Tiergefahr äußere sich in einem der tierischen Natur entsprechenden, unberechenbaren und selbständigen Verhalten des Tieres. Genauso läge der Fall: Das Pferd sei der Anweisung der Klägerin, nach links zu reiten, nicht gefolgt, sondern sei nach rechts geritten. Damit habe es, ob berechtigterweise oder nicht, ein eigenständiges und nicht dem Willen der Reiterin entsprechendes Verhalten gezeigt. Dieses Verhalten sei, auch wenn eine abrupte Bewegung des Pferdes nach rechts nicht erweislich sei, zum Sturz der sehr erfahrenen Reiterin geführt. Die Haftung sei auch nicht konkludent ausgeschlossen, die Beklagte unterhalte unstreitig eine TierhalterHaftpflichtversicherung. Ein Handeln auf eigene Gefahr sei nicht ersichtlich. Nur wenn ein Tier erkennbar böser Natur sei oder erst zugeritten werden müsse oder wenn der Ritt als solcher spezifischen Gefahren unterliege, wie beim Springen oder der Fuchsjagd, sei der Gesichtspunkt des Handelns auf eigene Gefahr zu diskutieren (BGH, Urteil vom 20.12.2005, AZ: VI ZR 225/04). Es sei allerdings unstreitig, dass sich die Klägerin mit dem Pferd noch in einer Aufwärmphase befunden habe. Sie habe erst nach einer 1/4 Stunde Warmreiten den ersten Sprung vollführt, was keine gefährliche Situation darstelle. Entscheidend sei, ob der Klägerin, wie vom Landgericht angenommen, ein Mitverschulden durch einen Reitfehler anzulasten sei. Dazu habe das Gericht den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt und gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs aus Artikel 103 Absatz 1 GG verstoßen, indem es dem Beweisangebot der Klägerin auf Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht nachgegangen ist. Wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage gehe, dürfe der Tatrichter auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde aufweise. Zudem müsse er einen entsprechenden Hinweis erteilen (BGH, Beschluss vom 13.01.2015, AZ: VI ZR 204/14). Geklärt sei weder die genaue Position des übersprungenen Hindernisses noch die Frage, ob ein Reiten nach links oder nach rechts herum geboten gewesen wäre und ob die Klägerin in der konkreten Situation überhaupt einen Reitfehler begangen habe. Vom Landgericht sei zunächst der genaue Standort des Hindernisses auf dem Reitplatz und seine Entfernung zur Bande zu ermitteln. Ein Gutachter habe sich mit der Frage zu befassen, ob in der konkreten Situation ein Reiten nach links als reiterlicher Fehler anzusehen wäre. Sofern der genaue Standort des Hindernisses nicht mehr zu ermitteln sei, müsse der Gutachter, falls möglich, zwei alternative Geschehensabläufe, einmal den Klagevortrag und einmal den Beklagtenvortrag, auswerten. Nur dann, wenn sich das Verhalten der Klägerin in beiden Varianten als Reitfehler erweise, wäre ein Mitverschulden im Sinne des § 254 BGB anzunehmen. Die Darlegungs- und Beweislast liege bei der Beklagten. Lasse sich der Sachverhalt nicht weiter aufklären, wäre bei Annahme einer sich realisierten Tiergefahr die volle Haftung der Beklagten anzunehmen. (OLG Hamm, Urteil vom 17.10.2023, AZ: I-9 U 146/22; LG Dortmund, Urteil vom 23.02.2022, AZ: 6 O 14/20) Christian Koch, Fachanwalt für Medizinrecht und Verkehrsrecht) |