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Prostata-Karzinom übersehen: 90.000 Euro

07.12.2021

Der 1949 geborene Mediziner hatte in den Jahren 2004 bis 2015 einen Anstieg seines PSA-Wertes (prostataspezifisches Antigen) von 4,3 ng/ml auf 7,6 ng/ml festgestellt. Das prostataspezifische Antigen wird bei bösartigen Veränderungen der Prostata vermehrt produziert. Um sicher zu gehen, dass der PSA-Wert nicht auf einen bösartigen Tumor der Prostata zurückzuführen war, ließ der Mandant eine spezielle Prostata-MRT und Ganzkörper-MRT durchführen, weil der Arzt mit einer besonderen Genauigkeit seiner Untersuchungsmethode im Internet geworben hatte.

Sowohl die Prostata-MRT als auch die Ganzkörper-MRT wurde vom Radiologen als unauffällig befundet. Es soll sich kein malignomsuspekter Befund in den Bildgebungen gezeigt haben. Erst zwei Jahre später wurde in einem Krankenhaus das schon 2015 vorhandene Prostata-Karzinom festgestellt. Dieses hatte bereits Metastasen mit sehr verbreiteten Skelett-Metastasen, eingestuft mit dem Gleason-Score 9, gebildet. Der Mandant musste sich einer sehr belastenden Chemo- und Hormontherapie mit massivsten Nebenwirkungen unterziehen: Gewichtszunahme um über 12 kg, Wachsen von Brüsten, starker Muskelverlust mit Fettaufbau, Impotenz, starke psychologische Beeinträchtigungen.

Seit der Therapie leidet er unter Schmerzen besonders in den Beinen, Ödemen an beiden Unterschenkeln, fibrotischen Veränderungen in den Lungen sowie Nervenstörungen in beiden Füßen aufgrund der Chemotherapie. Der Patient schläft nachts nur 2 - 3 Stunden, er hat Hitzewallungen, muss regelmäßig Schmerzmittel nehmen. Kurz vor der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht Münster stellten die Ärzte neben den Knochenmetastasen auch im Bereich der Bauchhöhle Lymphknoten und neue Knochenmetastasen an der Wirbelsäule fest.

Ich hatte den Radiologen vorgeworfen, grob fehlerhaft die eindeutig erkennbare Raumforderung in der Prostata-MRT nicht erkannt zu haben und ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 100.000 Euro gefordert.

Der radiologische Sachverständige hatte gegenüber dem Landgericht Münster einen fundamentalen Diagnoseirrtum bejaht. Die MRT-Bilder zeigten einen hochgradigen Malignomverdacht. Das Karzinom sei an einer Stelle der Prostata sichtbar, in welcher sich 75 % der Prostata-Karzinome abbildeten. Der hochgradige Verdacht auf einen bösartigen Tumor sei für einen Radiologen anhand der Bilder ohne weiteres zu erkennen, und zwar auf dem ersten Blick. Gerade eine Veränderung in der peripheren Zone der Prostata sei besonders malignomverdächtig. Hinzu käme der PSA-Anstieg, der dem Radiologen bekannt gewesen sei. Es sei unverständlich, dass der Radiologe mit dem klaren Untersuchungsauftrag des Ausschlusses eines Prostata-Karzinoms diesen hochgradigen Verdacht nicht erkannt habe. Die vom Sachverständigen eingeschalteten drei weiteren Fachärzte hätten ebenfalls sofort den Verdacht auf ein Malignom mit der Einstufung PI-RADS 5 gestellt.

Das Landgericht Münster hat ein Schmerzensgeld von 90.000 Euro für angemessen, aber "auch ausreichend" gehalten. Der Kläger leide unter Veränderungen in beiden Lungen, die durch die verabreichten Krebsmedikamente ausgelöst würden. Schmerzensgelderhöhend seien die Nebenwirkungen der Hormontherapie (Hitzewallungen, Muskelschwund, Gewichtszunahme, Wachsen von Brüsten). Nachdrücklich habe der Kläger die Folgen der Hormontherapie geschildert: Die Libido sei Null, er habe keine Erektion mehr. Dies führe zu Spannungen in seiner Ehe. Es handele sich um typische Nebenwirkungen der Hormontherapie. Außerdem sei dem Kläger mitgeteilt worden, dass mittlerweile im Bereich der Bauchhöhle Lymphknoten und neue Knochenmetastasen zu sehen seien. Er müsse sich weiteren Behandlungen, möglicherweise Bestrahlungen, unterziehen. Nicht mit eingeflossen in das Schmerzensgeld in Höhe von 90.000 Euro sei, dass sich ein weiteres Risiko verwirkliche. In diesem Fall könne der Kläger weiteres Schmerzensgeld einfordern.

Die gegen dieses Urteil von mir eingelegte Berufung hat der Senat des Oberlandesgerichtes Hamm mit Beschluss vom 07.11.2021 als "offensichtlich unbegründet" zurückgewiesen. Das Schmerzensgeld in Höhe von 90.000 Euro sei ausreichend. Vergleichbare Urteile, die ein Schmerzensgeld in Höhe von 100.000 Euro auswiesen, könnten nicht herangezogen werden, weil der Kläger älter als die dortigen Patienten sei. Ich habe daraufhin in Abstimmung mit dem Kläger die Berufung zurückgenommen.

(Landgericht Münster, Urteil vom 19.08.2021, AZ: 111 O 46/18;

Oberlandesgericht Hamm, Beschluss vom 17.11.2021, AZ: I-3 U 160/21)

Christin Koch, Fachanwalt für Medizinrecht & Verkehrsrecht

 
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